Es ist schon lange her, aber ich erinnere mich genau und ich werde und will es nie vergessen.
Es war die Schwester meines Großvaters, sie hieß Erika. Es war eine ordentliche konservative Familie guten Standes und sie war mit einem hohen General Jahrzehnte lang verheiratet und zeugte drei Kinder mit ihm.
Sie führte ein ordentliches Leben, erzog ihre Kinder, führte den Haushalt und engagierte sich gesellschaftlich. Ihr Mann war groß und stämmig und ging stets akkurat, als hätte er einen Besen verschluckt. Er hatte eine sehr strenge Art und laute Stimme, unüberhörbar und kaum jemand wagte es sich ihm zu widersetzen.
Doch eines Tages starb er und sie begann ihr neues Leben.
Vieles hörte ich erst im Nachhinein und schmunzle bis heute darüber.
Erst begann sie zu malen, dann zu reisen und leise sickerte es irgendwann durch, dass es sie nach Paris verschlug. Man hörte es munkeln, dass sie sich einer Gruppe junger Tänzer anschloss und diese auf ihren Tourneen begleitete. Mit einem der Tänzer begann sie eine wundervolle Affäre und reiste in ihrem hohen Alter mit ihm durch Frankreich zu all seinen Proben und Auftritten, begleitete ihn, verehrte ihn und genoss ihn.
Und so wurde sie zum Entsetzen der ordentlichen Familie zum Schwarzen Schaf dieser und böse Zungen flüsterten, sie hätte wohl ihre Contenance verloren.
Ich belauschte die Stimmen, jedoch für mich wurde sie zu einem meiner heimlichen Vorbilder.
Eines Tages starb sie, ich glaube sehr glücklich. In den Wochen nach ihrem Tod durften die Familienmitglieder sich von ihr gemalten Bilder je eines aussuchen. Ich fand ein wunderschönes, was in abstrakter Art ihre Tänzer an einer Ballettstange zeigte.
Ich hängte es über mein Bett, denn ich möchte es täglich sehen, täglich kurz schmunzeln und mich daran erinnern, wie wichtig es doch ist einfach zu leben, zu genießen und sich dem Glück des Augenblicks hinzugeben.
Und so trete ich mit Freude und Stolz in ihre Fußstapfen.
Osada Steve
7. November 2017 — 22:11
Eine schöne, berührende Geschichte